Wir trauern um
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Keller, Mario, 39 †
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Mario wurde am 7. September 1967 in Karlsruhe-Durlach geboren und trat in den badenwürttembergischen Polizeidienst ein, wo er eine Ausbildung bei der Schutzpolizei durchlief. Nach zweijährigem Streifendienst wechselte der Beamte 1997 zum Personen- und Objektschutz des Karlsruher Polizeipräsidiums. Hier wurde er in den Begleitkommandos des Generalbundesanwalts sowie des Präsidenten des Bundesgerichtshofs eingesetzt. Nach seiner Bewerbung auf einen Auslandseinsatz wurde er 2006 zur Sicherungsgruppe des Bundeskriminalamts abgeordnet und war seit November 2006 an der Deutschen Botschaft in Kabul im Personenschutzkommando des Botschafters tätig. Während seines Aufenthaltes hatte Polizeiobermeister Keller seinen Angehörigen immer wieder von den Lebensbedingungen der afghanischen Kinder berichtet – heute trägt eine Schule in Afghanistan seinen Namen. Quelle: Gedenkschrift des auswärtigen Amtes |
Tod eines
Schutzmannes Bevor sich Mario Keller auf den Weg zum Schießtraining
macht, isst er zum Frühstück ein Marmeladenbrot, wie immer ohne
Butter. Es ist kurz nach acht an diesem 15. August 2007, ein angenehm
milder Tag beginnt in Kabul. Vor dem Haus mit dem schwarzen
Gittertor im Stadtteil Shash Darak sitzt ein afghanischer Wachmann auf
seinem Plastikstuhl. Drinnen, hinter den Stacheldrahtrollen, setzt sich
Mario Keller noch ein paar Minuten vor den Fernseher, schaltet das
deutsche Morgenmagazin ein. Seit fast einem Jahr ist der
39-jährige Polizist schon hier, in sechs Wochen geht sein Dienst zu
Ende. Keller ist zum Schutz des deutschen Botschafters in die
afghanische Hauptstadt abgeordnet worden. Hier, wo er sich mit fünf
Kollegen ein Haus teilt, müssen die Personenschützer selbst Personal
engagieren, das sie beschützt. Zu Hause im badischen Weingarten bricht ein ungewöhnlich
heißer Tag an. Es ist halb sechs in dem Dorf bei Karlsruhe, zweieinhalb Stunden vor Kabuler Zeit.
Mario Kellers Lebensgefährtin Verena Häcker ist gerade aufgestanden.
Das Paar teilt sich eine kleine, verwinkelte Zweizimmerwohnung, 45
Quadratmeter. Nach Kellers Rückkehr aus Kabul wollen sie heiraten, so
ist es verabredet. In der Wohnung hat Verena Häcker Fotos ihres
Freundes aufgestellt, damit sie ihn immer sehen kann. Er ist ein
schlanker Mann mit weichem, rundem Gesicht, die grauen Locken mit etwas
Gel in Form gezupft. Mario Keller war vor seiner Zeit bei der Polizei
Friseur. Verena
Häcker will an diesem Morgen noch schnell in Kabul anrufen, um ihrem
Freund ein paar berufliche Neuigkeiten zu erzählen. Dann entscheidet
sie sich anders, um rechtzeitig in die Praxis zu kommen, wo sie als
zahnmedizinische Fachassistentin arbeitet. In Kabul macht sich Keller mit seinen drei Kollegen auf den Weg
zum Schießtraining. Sie sitzen in einem gepanzerten G-Klasse-Mercedes,
das weiße Auto ist unten mit einer acht Millimeter dicken Stahlplatte
gesichert. Keller fährt den Wagen, neben ihm sitzt der BKA-Beamte Jörg
Ringel, der vor seinem Einsatz in Kabul einer von Angela Merkels Leibwächtern
war. Direkt hinter Keller sitzt der Objektschützer Alex Stoffels von
der Bundespolizei Karlsruhe, auf der anderen Seite der Rückbank Dirk
Schulz (Name geändert), Bundespolizist aus Hannover.
Vor ihnen fährt ein zweites Fahrzeug, in dem zwei weitere Kollegen
sitzen. Mario Keller ist eigentlich Landespolizist in der ruhigen
Residenzstadt Karlsruhe. Für diese freiwillige Auslandsmission wurde er
an das Bundeskriminalamt abgeordnet. Noch vor einem Jahr hat Keller im gedeckten Anzug den
Generalbundesanwalt in Karlsruhe bewacht. Keller und seine Kollegen sind
aus ganz Deutschland nach Kabul gekommen, um den deutschen Botschafter
Hans-Ulrich Seidt zu schützen. Er wird auch in diesem Land, in dem längst
ein Krieg tobt, zivil beschützt. Die Deutschen wollen nicht als Militärmacht
auftreten, sie sehen sich als Aufbauhelfer. Ein Botschafter, der von
einem Panzer und Soldaten in Kampfuniform bewacht wird – das wäre in
Kabul vielleicht angebracht, aber das falsche Zeichen. Seidts Leibwächter
sollen möglichst wenig auffallen. Sie sind Teil einer Hoffnung, die von
Woche zu Woche stärker bedroht wird, und zwar der Hoffnung auf Frieden
und Demokratie. Sie sind Teil einer Schutzmacht, die sich die Frage
stellen muss: Hat dieser Einsatz noch einen Sinn? Zum 20 Kilometer entfernten Schießstand nehmen sie die
Dschalalabad Road, eine Schotterpiste. Die Männer der amerikanischen
Botschaft haben die Straße zeitweise gemieden, weil es hier öfter
Bombenanschläge gegeben hat. Wegen der Schlaglöcher und Bodenwellen
kann Keller nicht schneller als 30 Kilometer pro Stunde fahren. Sein
Kollege Stoffels macht auf der Rückbank ein paar verwackelte Fotos von
der staubigen Landschaft. Keller
sieht sich in der Rolle des diskreten, smarten Leibwächters Am Abend zuvor hat Keller seiner Freundin am Telefon erzählt,
dass er und einige Kollegen nicht verstünden, warum sie, die doch gut
schießen können, zu einem Training ausrücken sollen. Er telefoniert
fast täglich mit Verena. Sein Zimmer in Kabul schmücken ausschließlich
Erinnerungen an sein Zuhause. Über dem Schreibtisch hängen Fotos von
seinen Eltern und von Verena. Daneben ein Brief seiner neunjährigen
Tochter aus seiner Ehe mit einer anderen Frau, in der Form eines
Herzens. Ansonsten wirkt der Raum beinahe unbewohnt. Es ist das Zimmer
eines Menschen, der es kaum erwarten kann, wieder abzureisen. Keller ist ein zurückhaltender Beamter. Der Fan der
amerikanischen Polizistenserie Miami
Vice sieht
sich in der Rolle des diskreten, smarten Leibwächters. Während der
Telefonate mit Mario hat Verena Häcker immer öfter das Gefühl, dass
sich ihr Freund in Kabul fehl am Platz fühlt. Er erzählt ihr, dass er
abends oft allein in seinem Zimmer sitzt und liest. Er versteht sich
zwar gut mit den Kollegen, aber das monatelange Zusammenleben mit fünf
anderen Männern in einem streng bewachten Haus ist er nicht gewohnt. Keller ist penibel. Zu Hause in Weingarten hängen seine sorgfältig
gebügelten Hemden, darunter stehen Schachteln mit eleganten Schuhen,
jedem Karton liegt ein kleines Poliertuch bei. Afghanistan muss
ein Kulturschock für ihn gewesen sein. In der deutschen Botschaft
nennen die Beamten ihn »den schönsten Personenschützer Kabuls«. Als
sie später seinen Schrank in der Botschaft ausräumen, fragen sie sich,
wozu er all die feinen Anzüge mitgenommen hat, die er zwar als Leibwächter
des Generalbundesanwalts in Karlsruhe gebrauchen konnte, nicht aber in
Kabul, wo die schusssichere Weste jedes Jackett zerdrückt. Keller wollte gar nicht nach Kabul. Er wollte ins Kosovo. Im Sommer 2005 liest er in seiner Polizeidienststelle in Karlsruhe einen Aushang des BKA, dass Personenschützer für die deutschen Botschaften in Kabul, Prishtinë und Bogotá gesucht würden. »So ein Einsatz ist die hohe Schule des Personenschutzes«, erklärt er Verena, »eine größere Herausforderung gibt es in meinem Beruf nicht.« – »Bewirb dich erst mal«, antwortet sie.
Keller
besteht die Fitness- und Schießtests, Psychologen prüfen seine mentale
Tauglichkeit, eine Auswahlkommission stellt ihm Fragen zu seiner
Motivation. Als er alles schafft, ist er so stolz, dass er mit einer
Flasche Sekt bei seinen Eltern erscheint. Verena Häcker, der es lieber
wäre, ihr Freund bliebe einfach zu Hause, tröstet sich damit, Mario müsse
ja vor dem zwölfmonatigen Einsatz erst noch den fünfwöchigen
BKA-Lehrgang absolvieren. Als er auch den erfolgreich hinter sich bringt
und er wider Erwarten nicht ins Kosovo geschickt wird, sondern nach
Afghanistan, ist es für Verena Häcker zu spät, ihn davon abzuhalten. Er will diese letzte Stufe seiner Karriereleiter mit fast 40
Jahren noch nehmen. Nur dieses eine Jahr. Eine Gefahrenzulage von 92
Euro am Tag will man ihm zahlen. Dann wird geheiratet. Über Angst spricht Mario Keller mit Verena nicht, weder vor noch
nach seiner Abreise. Aber während einem seiner Urlaube in Deutschland,
als seine Tochter Erstkommunion feiert, merkt seine Freundin, wie schwer
es ihm fällt, wieder nach Kabul fliegen zu müssen. Beim Abschied weint
er. Von nun an zählt er die Tage bis zu seiner Rückkehr nach
Deutschland. Am Morgen des 15. August 2007 bekommen auch andere Kollegen die
Diskussion um das Schießtraining mit. Rolf Gumpert, der im Wagen vor
Mario Keller fährt, findet, dass sie dringend in Übung bleiben müssten,
um im Notfall richtig zu reagieren. Auf der Fahrt zum Schießstand sagt
er zu seinem Kollegen im Auto: »Muss denn erst was passieren, bis die
aufwachen und merken, dass wir das Training brauchen?« Gumpert ist in vielerlei Hinsicht das Gegenteil von Keller. Er
ist ein großer, kräftiger Mann von 43 Jahren, der sich gerne leger
kleidet. Er hat zur Einstimmung auf das Land nicht wie Keller Romane
afghanischer Schriftsteller gelesen, sondern ausschließlich das
Material des BKA. Er rechnet von Anfang an damit, dass der Terror in
Afghanistan auch ihn treffen kann. Gumpert im ersten Wagen kennt die Straße zum Schießstand gut.
Er weicht den Schlaglöchern aus und nimmt die Sandpiste neben der Straße.
Keller bleibt auf der Fahrspur. Sein Kollege Stoffels macht um 8.57 Uhr
noch ein Foto, dann steckt er die Kamera unter seine Schutzweste. Kurz
darauf knallt es. »Uns ist wohl ein Reifen geplatzt«, sagt Gumpert zu seinem
Kollegen im vorderen Wagen. Doch als sie aussteigen, sehen sie hinter
sich eine dichte Staubwolke. Die
Bombe der Taliban explodiert direkt unter dem Fahrersitz In Karlsruhe macht sich Verena Häcker auf den Weg zur Arbeit.
Wie immer im Sommer fährt sie die 30 Minuten von ihrer Wohnung zur
Praxis mit dem Fahrrad. Gegen halb sieben, als Gumpert den Knall hört,
kommt sie in Karlsruhe-Durlach an, wo auch Marios deutsche Dienststelle
ist. In Kabul drehen Gumpert und sein Kollege sofort um. Dann sehen
sie das vollkommen demolierte Auto der anderen. Eine Explosion hat es 50
Meter weit geschleudert, es liegt mit durchschlagenem Unterboden und
aufgerissener Motorhaube auf der Beifahrerseite. Der Wagen ist auf einen
ferngezündeten Sprengsatz gefahren, der direkt unter dem Fahrersitz von
Mario Keller hochging. Nach etwa einer Stunde kommt das Rettungsteam und fliegt den
leicht verletzten Dirk Schulz ins Lazarett. Er ist der Einzige, der überlebt.
Später findet man unter Alex Stoffels’ Schutzweste die Kamera mit den
letzten Fotos. Sie zeigen eine trostlose Landschaft, Geröll, Sand, ein
paar Häuser am Hang. Im Personalzimmer der Zahnarztpraxis hat Verena Häckers Chef wie
so oft den Nachrichtenkanal n-tv angeschaltet, aus dem Augenwinkel sieht
sie um halb elf Bilder aus Kabul, einen weißen, gepanzerten Mercedes,
der auf der Beifahrerseite liegt. »So einen fährt Mario«, denkt sie.
Aber sie kommt nicht auf die Idee, dass ihrem Freund etwas passiert sein
könnte. Sie stellt den Fernseher ab, der Lärm stört sie. Wenige Minuten später klingelt es an der Tür der Praxis. Eine
befreundete Polizistin und eine zweiter Mann in Uniform stehen da. Die
Frau nimmt Verena am Arm, zieht sie in die Küche und sagt ihr, sie möge
sich setzen. Auch da begreift Verena Häcker noch nichts. Dann überbringt
ihr die Freundin die Nachricht: »Der Mario ist ums Leben gekommen.« Der Nato-Einsatz in Afghanistan läuft mittlerweile seit acht
Jahren, 38 deutsche Soldaten sind dabei umgekommen. Mario Keller und
seine zwei Kollegen waren die ersten deutschen Polizeibeamten, die in
Afghanistan gestorben sind. Schon lange sind auch deutsche Polizisten am Hindukusch,
um afghanische Kollegen aus- und weiterbilden. Aber erst mit dem
Anschlag auf Keller und seine Kollegen wird vielen in der Polizei das
Ausmaß der Gefahr bewusst, in der auch sie sich befinden. Plötzlich
kommen Männer, die als Polizisten nach Kabul gingen, wie gefallene
Soldaten in Särgen mit schwarz-rot-goldener Fahne zurück. Plötzlich müssen
die Angehörigen der Toten und ein traumatisierter Beamter von deren
Heimatdienststellen in Karlsruhe und Hannover betreut werden, sie hatten
mit Afghanistan bislang nie etwas zu tun. »Ob ein Beamter in Kabul oder
Karlsruhe umkommt, das ist im Prinzip das Gleiche«, heißt es bei der
Polizei. In Afghanistan herrscht für die Deutschen offiziell kein
Krieg. So wenig wie in Karlsruhe. Drei
Tage nach dem Anschlag findet im Berliner Dom eine Trauerfeier statt.
Verena Häcker erlebt diesen Samstagnachmittag wie hinter einer
Nebelwand, sie hat Tabletten zur Beruhigung genommen. Im Seitenschiff
spricht Bundeskanzlerin Angela Merkel jedem der Angehörigen ihr Beileid
aus. Der baden-württembergische Ministerpräsident ist gekommen, der
deutsche Botschafter aus Kabul, der Bundesinnenminister. Hunderte
Polizisten sitzen in der prachtvollen Kirche am Lustgarten. Minister Wolfgang
Schäuble hält hinter
einem Pult mit Bundesadler eine Trauerrede, die klingt, als handele es
sich um ein Militärbegräbnis. Mit den Worten »Sie gaben ihr Leben für
unser Vaterland« schließt Schäuble seine Rede. Niemand hier würde
die drei Toten offiziell als Gefallene in einem Krieg bezeichnen, und
doch gedenken sie ihrer mit höchsten Staatswürden. Zwei Jahre nach dem Anschlag sitzt die 39-jährige Verena Häcker
in ihrer Wohnung in Weingarten und fragt sich noch immer nach dem Sinn.
Sie glaubt keinen Moment lang, dass Deutschland auch am Hindukusch
verteidigt werde. »Und selbst wenn, was hätte Mario damit zu tun
gehabt? Er war doch kein Soldat.« In ihrer Wohnung hat sie vieles so bewahrt, wie es zu Marios
Lebzeiten war. Seine gebügelten Hemden hängen wie früher auf der
Stange, in der Kommode im Schlafzimmer liegen rechts noch immer seine
Sachen, links ihre eigenen. Wenn sie Mario nah sein will, holt die
zierliche Frau eines seiner T-Shirts aus der Kommode und zieht es an,
obwohl es ihr viel zu groß ist. Nachts schläft sie manchmal in seinem
Pyjama. Das hat sie auch schon gemacht, als Mario in Kabul war und sie
ihn vermisste. Neulich hat sie ein Haar von Mario auf einem seiner alten
Kleidungsstücke gefunden, eine unverhoffte Erinnerung. Kellers Habseligkeiten aus Kabul überstellte das BKA der Familie
per Kurier. Als das Paket mit seinen Sachen eintraf, glaubte Verena Häcker,
sie könne zumindest noch einmal seinen Geruch einfangen, der in den
Kleidern hängt. Aber da war nichts mehr. Nur der Geruch von Sand,
mittlerweile modrig-feucht. Für Verena Häcker ist das seitdem der
Gestank von Kabul, der Gestank des Todes. Dass sie in jenem Land bald nach dem Terroranschlag eine Schule
bauen lassen will, verstehen viele ihrer Freunde nicht. Dort, wo Mario
ums Leben kam, in der Heimat seiner Mörder? »Muss
es erst zu Aufständen kommen, damit ihr uns Aufbauhilfe gebt?« Die Sache mit der Schule beginnt schon in den ersten Tagen der
Trauerzeit. Die Gäste der Gedenkfeier in Karlsruhe sollen Geld für
Afghanistan spenden, anstatt teure Blumen mitzubringen. So wollen es
Verena Häcker und Mario Kellers Familie. Sie wollen den Taliban, die
sich inzwischen zu dem Anschlag bekannt haben, zeigen, dass sie nicht
gesiegt haben. Dass sie, die Familie Keller, trotz allem den Afghanen
helfen wollen. 7000 Euro kommen zusammen, die sie dem deutschen Botschafter in
Afghanistan übergeben. Mit ihm ist Mario oft joggen gegangen, die
beiden haben sich gut verstanden. Die Familie Keller hat ein eher
kleines Projekt im Sinn, Kleiderspenden oder Spielsachen für Kinder.
Der Botschafter schlägt der Familie vor, das Geld als Startkapital für
den Bau einer Mädchenschule zu verwenden, die nach Mario Keller benannt
werden soll. Von einem seiner Mitarbeiter weiß der Botschafter, dass die
Provinzoberen in Shegnan, einer relativ ruhigen, weit entlegenen nordöstlichen
Region, schon lange auf die Hilfe der Deutschen hoffen. »Muss es denn
bei uns auch erst einen Aufstand geben, damit ihr uns Aufbauhilfe gebt?«,
hat einer der afghanischen Provinzchefs den deutschen Diplomaten
gefragt. Der Abgesandte des Botschafters reist in die Region Shegnan und
bespricht den Plan von der Mädchenschule mit den Dorfältesten. Er
fliegt in einem Armeehubschrauber. 110.000 Euro wird die Schule kosten. Die Hälfte davon will das
Auswärtige Amt übernehmen, für die andere Hälfte bittet der
Botschafter den Verein Lachen Helfen, eine Initiative von Soldaten und
Polizisten für Kinder in Kriegs- und Krisengebieten, um Unterstützung.
Die Öffentlichkeitsarbeit des Vereins macht Gaby Allendorf, die einst
Pressereferentin des Verteidigungsministers war. Sie spricht Verena Häcker an und fragt, ob sie nicht ab und zu
im Namen des Vereins für den Bau der Schule werben wolle. Verena Häcker
zieht mit, gibt Interviews und hilft dabei, Benefizkonzerte zu
veranstalten. Ein halbes Jahr nach dem Anschlag trägt Verena Häcker
bald Woche für Woche Spenden zusammen. Sogar wenn sie abends nach einem
Zehnstundentag joggen geht, tut sie das nicht zum Spaß, sondern für
die Mario-Keller-Schule in Afghanistan: Sie nimmt an einem
Spendenmarathon teil. Und so ist sie, die Rastlose, zu einer
Handlungsreisenden in Sachen Afghanistan geworden. Für das Anliegen der
Bundeswehr und der Polizei gibt es kaum eine bessere Botschafterin als
sie: Wenn sich sogar die Partnerin eines getöteten Polizisten für
Afghanistan engagiert, dann muss der Einsatz ja gerechtfertigt sein. Als die Schule am 10. Oktober dieses Jahres eingeweiht wird, ist
Verena Häcker nicht dabei. Ohne militärischen Schutz hätte sie die
Reise nicht machen können. Und sie will nicht, dass ein weiterer Mensch
ihretwegen sein Leben riskiert. Auch der deutsche Botschafter erscheint
zur Einweihung der Schule nicht. Er hat wegen der afghanischen Präsidentschaftswahl
Termine in Kabul. Aber
was ist das für ein militärischer Einsatz, wenn sie, die Lebensgefährtin
eines getöteten Polizisten, nicht einmal die Schule besuchen kann, die
seinen Namen trägt? Verena Häcker sucht nach einem Sinn für Mario
Kellers Tod, sie würde die Schule gerne besichtigen, aber es sieht
nicht so aus, als bessere sich die Sicherheitslage in Afghanistan. Kellers
Habseligkeiten aus Kabul schickt das BKA per Kurier Zu Hause, in ihrem Computer, hat Verena Häcker Bilder von der Eröffnungsfeier
der Schule gespeichert, das Auswärtige Amt hat die Aufnahmen geschickt.
Ein weißes Band wird feierlich durchschnitten. Vertreter der
afghanischen Provinzregierung und eine Abgesandte der Außenstelle des
Auswärtigen Amts in der Provinzhauptstadt Faisabad sind gekommen. Von
dort reisten auch ein Vertreter der Bundeswehr und einer der Polizei an.
Verena Häcker hat all diese Menschen noch nie gesehen. In letzter Zeit sind ihr manchmal Zweifel gekommen. Wenn sie
morgens in der Zeitung liest, dass Talibankämpfer das UN-Gästehaus in
Kabul gestürmt und Menschen getötet haben, die dem Land doch
eigentlich helfen wollten, fragt sie sich: »Wozu mache ich das alles?«
Sie weiß dann nicht mehr, wie sie ihre Freunde davon überzeugen soll,
Geld für Afghanistan zu geben – ein Land, in dem Taliban Säureattentate
auf Mädchen verüben, die zur Schule gehen wollen. In der Region, in
der die Mario-Keller-Schule liegt, ist es ruhig, von Taliban blieb man
dort bislang verschont. Und doch macht sich Verena Häcker Sorgen. Was,
wenn die Schule zerstört würde? Viele ihrer Bekannten verstehen nicht mehr, warum sie das alles
macht. Die Witwe des ebenfalls getöteten Alex Stoffels, mit der Verena
Häcker mittlerweile befreundet ist, rät ihr, sie solle sich lieber um
ihr eigenes Leben kümmern. Auch Kellers früherer Kollege Gumpert, mit
dem Verena Häcker nach dem Terroranschlag ein paarmal telefoniert hat,
glaubt, sie könne das Geschehene nicht hinter sich lassen, wenn sie
sich ständig mit dieser Schule beschäftige. Verena Häcker antwortet
ihm, sie wolle eben manchmal immer noch nicht glauben, dass Mario nicht
mehr da ist. Dirk Schulz, der einzige Überlebende des Attentats, kann seinen
Dienst als Polizist nicht mehr ausüben. Verena Häcker hat anfangs ein
paarmal mit ihm telefoniert, dann brach er den Kontakt ab. Auch mit der ZEIT will
er nicht sprechen. Leute, die Dirk Schulz kennen, sagen, er habe sich
mit Schuldgefühlen geplagt, weil er lebt und die anderen starben. Was
die psychologische Betreuung des Traumatisierten angeht, sagt ein
Polizist, der Schulz kennt, sei vieles »sehr unglücklich« gelaufen.
Weil Schulz Bundespolizist ist, für den Einsatz aber ans BKA abgeordnet
war, sei lange nicht klar gewesen, wer sich um ihn kümmern soll. Rolf Gumpert hat keine derartigen Schuldgefühle, »aber ich saß
auch nicht in dem Wagen«, sagt er. Er ist nach einem zweiten Aufenthalt
in Kabul vor ein paar Monaten nach Hamburg zurückgekehrt. Dort arbeitet
er wieder als Drogenfahnder. Die Möbel in seiner Wohnung sehen neu und
unbenutzt aus, »ich bin nicht viel zu Hause«, sagt er. Es gibt ein
Foto von Gumpert aus Afghanistan, auf dem er wie ein Hüne auf einem
Felsvorsprung steht, unter ihm ein weites Bergtal. Seine Kleidung hat
die gleiche hellbraune Farbe wie die Landschaft, er fällt kaum auf.
Afghanistan ist seine natürliche Umgebung geworden. Obwohl es ihn bei dem Bombenanschlag nur durch Zufall nicht
getroffen hat, war seine große Sorge danach, dass man ihn nun zur
Regeneration nach Hause schicken würde. »Da wäre ich mir wie ein
Versager vorgekommen«, sagt er. Eine Psychologin, die nach dem Anschlag
in Kabul mit ihm ein Gespräch führte, bescheinigte ihm schließlich,
dass er bleiben konnte. Gumperts Freundin versteht nicht, warum er nicht
heimkommt. Die Beziehung zerbricht darüber. Gumpert erzählt von den Ereignissen jener Tage in nüchternem
Ton, er schildert nur Fakten, keine Gefühle. Was er in jenen Minuten
gesehen und gedacht hat, als er und sein Kollege allein waren mit den
Toten und dem verletzten Kollegen, der sich an ihn klammerte, darüber
will er nicht sprechen. »Aus Rücksicht auf den Kollegen und die Angehörigen.«
Nur so viel sagt er: Es gebe Bilder, die immer wieder auftauchten in
seinem Kopf. Er sieht dann Öl, das aus dem Wageninneren läuft und sich
im Sand mit Blut vermischt. Seit dem Tod seiner Kollegen ist er sich
sicher: Nach Afghanistan sollten keine Väter gehen. Der Vorgesetzte eines der Getöteten wundert sich noch heute über
die eigene Leichtgläubigkeit, mit der er seinen Kollegen ziehen ließ.
Als dann plötzlich Tote zu beklagen sind, fordern viele in der Polizei
Konsequenzen. Nach dem Anschlag werden zum Schutz der Botschaft zusätzlich
Beamte der Antiterroreinheit GSG9 nach Kabul geschickt, die Elitetruppe
schützt auch die deutsche Botschaft in Bagdad. Die Bundespolizei
richtet einen neuen Arbeitsstab ein, der Beamte in einem zehnwöchigen
Lehrgang für die Arbeit in Kabul ausbildet. Die Männer bleiben nun höchstens
sechs Monate dort und müssen auch nicht mehr zum Schießtraining. Der
Personenschutz wird in einer einzigen Behörde, der Bundespolizei, gebündelt.
Im BKA heißt es, diese Maßnahme sei schon vorher geplant gewesen, der
Terroranschlag habe aber alles beschleunigt.
Wenn es regnet, sitzt die Mutter am Grab – der Sohn hasste
Regen Was bei einigen Angehörigen zurückbleibt, ist das dumpfe Gefühl,
dass erst Polizisten sterben mussten, bis die Behörden reagierten. Dass
sie die Leidtragenden einer Politik sind, die in der Öffentlichkeit das
wahre Ausmaß der Gefahr verschleiern will. Die Eltern Keller wohnen in einem schlichten weißen
Mehrfamilienhaus in Karlsruhe-Durlach. Wenn sie aus der Tür treten und
nach links sehen, blicken sie auf die frühere Dienststelle ihres
Sohnes. Vater Manfred Keller, ein grauhaariger Mann, der vor zwei Jahren
in Rente ging, sagt, sie hätten sich nach Marios Tod viele Fragen
gestellt. Auf den Wohnzimmertisch legt er Unterlagen, sieht nicht
hinein, hält sie aber mit den Händen fest umschlossen. »Warum haben
sie das Schießtraining erst nach dem Anschlag abgeschafft?« Warum
seien die Fahrzeuge der Polizisten nicht wie beim Militär mit Störsendern
ausgestattet gewesen, die das Zünden von Bomben per Funksignal
verhindern können? »Die Sicherheit der Beamten darf doch keine Geldfrage sein«,
sagt er schließlich. Mit seinen Fragen bleibt er allein. Kellers Dienstherr für den Einsatz in Afghanistan, Heinz-Werner
Aping, sitzt im BKA in Berlin. Keller und die anderen Personenschützer
in Kabul, das sind für ihn »seine Männer«. Er ist Abteilungspräsident,
leitet die Sicherungsgruppe des BKA. Aping hat nicht das erste Mal mit
traumatisierten Beamten und Angehörigen von Opfern zu tun. Sechs Wochen
vor dem Terroranschlag hat er die Männer in Afghanistan besucht. Nach
dem Attentat hat er die Särge auf dem Flug nach Deutschland begleitet.
Doch offiziell darf sich Heinz-Werner Aping auf Anfrage derZEIT nicht
zu dem Fall äußern. Weder er noch sonst jemand aus der Behörde. Rita Keller, Marios Mutter, glaubt, sie hätte den Tod ihres
Sohnes besser verarbeiten können, wenn er bei einem Schusswechsel ums
Leben gekommen wäre. »Dieses Risiko gehörte schließlich zu seinem
Beruf.« Den Sprengstoffanschlag von Kabul empfindet sie als einen
besonders hinterhältigen Mord, weil ihr Sohn keine Chance hatte. Die
Familie konnte sich nicht von seinem Leichnam verabschieden. Das
Einzige, was der Mutter blieb, war die Urne mit seiner Asche. Die hat
sie mit ihren eigenen Händen ins Grab gelegt, so als bette sie ihr
Kind. Rita Keller, rote Haare, bunte Ketten um den Hals, muss einmal
eine lebenslustige Frau gewesen sein. Heute geht sie kaum mehr unter
Leute. Am wohlsten fühlt sie sich, wenn sie am Grab ihres Sohnes sitzt.
Auch zwei Jahre nach seinem Tod geht sie mindestens drei Mal in der
Woche auf den Friedhof, vor allem bei Regen, weil Mario dieses Wetter so
gehasst hat. »Da will ich ihn nicht alleine lassen«, sagt sie. Sie
sitzt dann meist auf der Bank dem Grab gegenüber und redet mit ihrem
Sohn, ohne Antworten zu erhalten. Das Beten hat sie aufgegeben. Kellers Grab ist zweigeteilt, die linke Hälfte wird von Familie
Keller und Verena Häcker geschmückt, die rechte von seiner
geschiedenen Frau und der zwölfjährigen Tochter. Links steht eine
Kerze, rechts steht eine Kerze, mit unterschiedlichen Widmungen. Nach seiner Beerdigung kam es zum Streit. Keller hatte vor seiner
Abreise nach Kabul zwar ein Testament gemacht und es seiner Lebensgefährtin
übergeben. Aber Verena Häcker weigerte sich, hineinzusehen. Sonst wäre
ihr vielleicht aufgefallen, dass das Testament nicht notariell
beglaubigt war. In dem Papier verfügte Keller, dass das Geld aus seiner
Lebensversicherung unter seiner Tochter, seinen Eltern und seinen Brüdern
aufgeteilt werden sollte. Aber als Bezugsberechtigte war bei der
Versicherung noch immer seine geschiedene Frau eingetragen. Der Versuch,
einen außergerichtlichen Vergleich zu schließen, scheiterte, und der
Streit spitzte sich zu. Rita Keller, die ihre Enkelin früher jedes
zweite Wochenende bei sich hatte, darf sie jetzt nicht einmal mehr
anrufen. Sie hat das Letzte verloren, was ihr von Mario geblieben ist.
Mit
jeder Schule in Afghanistan soll der Einsatz sinnvoller werden In der Mario-Keller-Schule wird jetzt unterrichtet. Die Schule, die seinen Namen trägt, wird den Mädchen in dem Dorf Shoduj die Chance auf Bildung geben. Den deutschen Soldaten wird sie das Gefühl vermitteln, etwas Wegweisendes zu tun in diesem Krieg, in dem der Überblick verloren geht. Mit jeder Mädchenschule, die in Afghanistan eröffnet wird, wächst der Stolz darauf, etwas erreicht zu haben. Aber die Vermischung von Entwicklungshilfe und militärischem Kampf birgt eine Gefahr. Sobald Soldaten zu Helfern werden und Aufständische die Unterstützung nicht mehr als neutralen Akt begreifen, werden auch die zivilen Entwicklungshelfer zu ihren potenziellen Feinden. Jetzt, da die Schule fertig ist, gibt es Sonntage, an denen sich
Verena Häcker zu Hause hinsetzt und ein Buch aufschlägt. Sonntage, an
denen sie es schafft, nicht nach draußen zu laufen, nicht vor der
Stille zu fliehen. Sie hat sich für die nächsten Monate etwas
Wichtiges vorgenommen, sie will sich eine neue Wohnung suchen, denn ihre
alte, das sind 45 Quadratmeter Mario. Sie hat versucht, einen Sinn zu
finden für seinen Tod. Sie hat versucht, über den Verlust
hinwegzukommen durch die Spenden für die Mario-Keller-Schule. Aber
Verena Häcker wird sich nicht vergewissern können, ob ihr Engagement
etwas nützt. Sie wird nicht zur Schule reisen können, das steht jetzt
fest. Noch immer ist der Weg dorthin viel zu gefährlich. Quelle: Zeit Online von Annabel Wahba | 05. November 2009 |
"Sie verloren ihr Leben, um Leben zu schützen" Bei der Trauerfeier im Berliner Dom würdigte Innenminister Wolfgang Schäuble den Einsatz der drei in Afghanistan getöteten Polizisten. Auch mehrere hundert Polizeikollegen waren zu der Feier angereist. Gemeinsam nahmen sie Abschied.
Nicht nur Politiker und
Angehörige, auch Hunderte von Polizisten kamen am Samstagnachmittag in
den Berliner Dom, um ihrer drei getöteten Kollegen zu gedenken. Vor dem
Altar waren große Porträts von Mario Keller, Jörg Ringel und
Alexander Stoffels aufgestellt. Die drei Beamten waren zur Sicherung der
Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Kabul. Am Mittwoch waren sie getötet
worden, als Terroristen eine ferngesteuerte Mine unter ihrem Auto zündeten. "Die Beamten gaben ihr Leben für unser Vaterland",
sagte Innenminister Wolfgang Schäuble. Die Polizisten hätten "ihr
Leben gelassen für eine zutiefst humane Idee". Menschen könnten
nur in Frieden leben, wenn es eine Ordnung gebe, die ihnen Sicherheit
garantiere. Solche Ordnung aufrecht zu halten bedeute das Ende des
Terrorismus. An dem Gottesdienst nahm auch Bundeskanzlerin Angela Merkel teil.
Sie kannte einen der Getöteten persönlich, weil er vor dem Einsatz in
Afghanistan als Personenschützer für sie arbeitete. Er war für das
BKA vorübergehend an die deutsche In seiner Rede im Berliner Dom bekräftigte Innenminister Schäuble
das deutsche Engagement in Afghanistan. "Wenn sich die offenen
Gesellschaften durch die furchtbaren Verbrechen von Terroristen
verunsichern ließen, wäre nicht nur die Zukunft Afghanistans verloren,
sondern auch unsere." Der Einsatz der internationalen Sicherheitskräfte
in Afghanistan sei ohne Alternative. Schäuble warnte vor dem Glauben,
dass die Entwicklung dort für Deutschland ohne Bedeutung sei. Quelle: www.welt.de |